14. Juni 2006, Neue Zürcher Zeitung

Die Muse küsst hier nicht

Die ästhetische Erziehung an Deutschlands Staatsschulen zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Das deutsche Kunststudium, mehr noch das Musikstudium geniesst weltweit einen ausgezeichneten Ruf. Aber unterhalb der universitären Ebene, an den staatlichen Schulen, ist die Lage desolat.

Die deutschen Staatsschulen sind Getriebene. Das schlechte Abschneiden bei den Pisa-Tests und die Fälle misslungener Integration von Migrantenkindern sitzen den Kultusministern im Nacken. Nach den internationalen Leistungsprüfungen, welche die OECD durchführen liess, soll es in Deutschland ab 2009 einen nationalen Bildungstest mit landesweit einheitlichen Prüfungsaufgaben geben, gestützt auf Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (KMK). Verglichen mit dem, was dort verlangt wird, nimmt sich die jüngste Resolution des Deutschen Bühnenvereins heillos utopisch aus - sie fordert: «Literatur, Kunst, Musik, Tanz und darstellendes Spiel müssen so selbstverständlich werden und dieselbe Anerkennung erfahren wie naturwissenschaftliche Fächer. Curricula müssen dramatische, musikalische und Musiktheater-Werke vorsehen und Inhalte umfassen, die Schüler in die Lage versetzen, Sprachkompetenz zu erwerben und die Zeichenwelt der Kunst zu verstehen.»

Sterile Praxis

Schön wär's. Die Bildungsstandards der KMK kennen für Grund- und Hauptschüler nur das trockene Brot aus Lesen, Schreiben und Rechnen. Realschüler und Gymnasiasten haben überdies in ausgewählten Naturwissenschaften und einer Fremdsprache zu beweisen, dass sie einem «mittleren Anforderungsniveau», bezogen «auf den Kernbereich des jeweiligen Faches», genügen. Einzelne Bundesländer wehren sich gegen die zunehmende funktionalistische Verengung des Bildungsbegriffs, namentlich Baden-Württemberg hat für den schulischen Musikunterricht geradezu bewunderungswürdige Standards formuliert. Ob sie auch umgesetzt werden, steht allerdings dahin, denn «eine umfassende Evaluation gibt es noch nicht», teilt der Fachberater Musik im Regierungspräsidium Stuttgart mit. Aussagen über die Realität des Musikunterrichts, so warnt er uns, seien «sehr spekulativ und meist an individuelle Erfahrungen geknüpft».

Halten wir uns also für einen Moment ans angeblich Spekulative: an Erfahrungen, Beobachtungen, Gespräche im persönlichen Umfeld. Da ist die Geigenschülerin, die vor einem Jahr extra an ein Gymnasium wechselte, welches sich seines «musikalischen Zweigs» rühmt, dort jedoch bis anhin ihr Instrument nicht hervorzuholen brauchte. Da ist die Lehrerin an einer regionalen Musikschule, der die Privatschüler weglaufen, weil ihnen die Hausaufgaben in den von der KMK favorisierten Basisfächern keine Musse mehr zum Musizieren lassen.

Ästhetische Erziehung an den deutschen Staatsschulen? Formell stehen Musik- und Kunstunterricht noch immer auf der Stundentafel. Papier ist ja geduldig. Aber man darf keinen Blick auf die triste Praxis werfen. Allein diese Vorliebe für sterile Materialien, für Schere und Klebstoff, für Schablonen und Fotokopien im Kunstunterricht der Grundschulen. Man hält die Schüler am Gängelband, schwadroniert aber unentwegt von «Kreativität». Zur deutschen Schulwirklichkeit gehört, dass weit weniger Fachstunden gegeben werden, als die Lehrpläne für Kunst und Musik vorsehen. Zwei Drittel des Deputats für Musik sind es laut Erhebungen des Verbands deutscher Schulmusiker an den Gymnasien, die diesbezüglich noch am besten dastehen. Auf nur rund vierzig Prozent kommen Real- und Hauptschulen. An den Grundschulen wird nicht einmal ein Fünftel des Musikunterrichts fachlich korrekt erteilt. Noch übler steht es an den Sonderschulen, also gerade dort, wo die Musik auch therapeutische Aufgaben zu erfüllen hätte.

Wenn in den unteren Klassen wenigstens reichlich gesungen würde. Aber Singen ist expressiv, wer singt, gibt etwas von sich preis, und damit haben viele Lehrer Schwierigkeiten. Die Notenschrift lernen? Noch so eine Forderung, die zum Curriculum der Schule gehört, deren Sinnhaftigkeit indes nur dort offenbar wird, wo sich dieser Sinn sinnlich erfahren lässt: beim Musizieren. Doch den Schüler möchten wir sehen, der durch den Musikunterricht einer Schule zum Erlernen eines Instruments gebracht würde. Das Musizieren wird an Arbeitsgemeinschaften delegiert, und dort, in der hochgelobten Musik-AG, treffen sich dann alle, die schon von Haus aus das Privileg geniessen, dass ihre Eltern für Förderung und Privatunterricht sorgen. Im regulären Unterricht hingegen nehmen Lehrer gern zu Konserven Zuflucht. Stolz berichtete uns eine Grundschullehrerin, sie habe an Mozarts 250. Geburtstag während des Frühstücks in der Klasse den Kassettenrecorder laufen lassen: die «Zauberflöte» vom Band als Hintergrundmusik zum Pausenbrot. Unter den Kollegen galt sie damit bereits als eminent engagiert. Bei den Eltern übrigens auch. Die ebenso simple wie naheliegende Frage, ob die Kinder nicht besser Papagenos Vogelfänger-Lied gesungen hätten, stellte sich gar nicht.

Aus dem von KMK und Bundesbildungsministerium jetzt erstmals vorgelegten Bericht «Bildung in Deutschland» geht im statistischen Anhang hervor, dass die Zahl der Studienanfänger, die das Fach Musikwissenschaft wählen, seit 1985 beständig sinkt. Der Geringschätzung des Musikunterrichts unter Schulpolitikern entspricht ein Mangel an Musiklehrern. Die Unterversorgung wird weitgehend klaglos hingenommen. Für die ästhetische Erziehung hatten die Pisa-Tests fatale Folgen. Nun zittern schon die Eltern von Zweit- und Drittklässlern, ob ihr Kind später einmal das Abitur schafft. Die Politiker träumen von «kontinuierlichem Bildungsmonitoring», und so jagt ein Schultest den nächsten, frei nach der Devise: Kinder muss man nicht mögen, sondern messen. Lesekompetenz, Schreibkompetenz, Rechenkompetenz. Englisch, Biologie, Physik, Chemie. Verwertbares Wissen. Dagegen lassen sich kaum Einwände erheben. Die Schule ist, was Hartgesottene seit je sagen, schliesslich nicht zum Spielen da. Oder zum Tanzen, Singen, Bildermalen. Nur bis zum Deutschen Bühnenverein hat sich das noch nicht herumgesprochen.

Böse Folgen fürs klassische Erbe

Prominente Musiker und Dirigenten wie Anne- Sophie Mutter oder Daniel Barenboim plädieren vehement für eine radikale Veränderung der Musikerziehung. Musik öffnet innere Räume, die sonst unentdeckt blieben, sie lehrt Zuhören und Disziplin (allein schon durch Rhythmik), sie schult das Ohr, sie verschafft dem Menschen Ausdrucksmittel für eine Transzendenz des Alltags, für eine Intensität jenseits der Welt der Zwecke. Früh, schon im Kindergarten, wäre mit ihr zu beginnen. «Wie wollen wir ein neues Publikum finden, wenn die Menschen erst fünfundzwanzigjährig zum ersten Mal mit dem Phänomen eines Symphoniekonzerts konfrontiert werden?», fragt Barenboim. Der ernsten Musik kommen die Hörer abhanden. Das «Kulturbarometer», das vom Bonner Zentrum für Kulturforschung in Kooperation mit der Deutschen Orchestervereinigung erhoben wird, verzeichnet einen alarmierenden Rückgang des Klassik-Publikums bei den Besuchergruppen mittleren Alters und jüngeren Senioren. Somit fehlen künftig auch die Elternhäuser, in denen Kinder an das musikalische Erbe herangeführt werden könnten.

Joachim Güntner

Diesen Artikel finden Sie auf NZZ Online unter: http://www.nzz.ch/2006/06/14/fe/articleE6UXU.html