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Von Wölfen und Rehen

Dekorativ, visuell einprägsam, auf den sinnlichen Zuspruch des Betrachters zielend und mit Hang zu privaten Mythologien im Miniaturformat: Ab heute ist die vierte Berlin Biennale zu sehen

 VON HARALD FRICKE

Necrosodomy? Nie gehört. Und wer soll die Saat von Azagthoth sein? Keine Ahnung. Ansonsten viele Wörter für faulendes Fleisch, aber auch interessant klingende Tötungstechniken wie "pneumatic slaughter". Steven Shearer stammt aus New Westminster, einem kanadischen Provinznest, gleich hinter der US-Grenze, in British Columbia. Seit Jahren beschäftigt er sich mit der Sprache des Death Metal. Jetzt hat Shearer das satanische Geheimwissen für eine breite Öffentlichkeit sichtbar gemacht: Auf einer 500 Quadratmeter großen Brandmauer an der Oranienstraße kann man sein "Poem" aus lauter Slogans lesen, die in Songtexten oder auf Homepages und in Chatforen der dazugehörigen Szene zirkulieren. Der böse Rock-Underground erhebt sich, seine Botschaft lautet: "blasphemy made flesh", in weißen Lettern auf schwarzem Grund geschrieben. Willkommen zur 4. Berlin Biennale.

Wütend sein, provozieren wollen, den Betrachter mit wuchtigen Statements irritieren. Ein guter Anfang für eine Ausstellung, die sich auf 13 Orte entlang der Auguststraße in Berlin-Mitte verteilt. Eineinhalb Jahre haben Massimiliano Gioni, Ali Subotnick und Maurizio Cattelan als kuratorisches Team daran gearbeitet, dass sich 84 Künstler und Künstlerinnen - viele von ihnen wurden in den späten Siebzigerjahren geboren - auf dem Areal austoben dürfen, das vor fünf Jahren noch als Hot Spot der Gentrifizierung galt.

Mittlerweile ist es hier still geworden, die Auguststraße ruht unter einer Käseglocke der Musealisierung. Deshalb fanden schon Monate im Voraus einige situationistische Aktionen statt, die für die heute eröffnende Biennale Werbung waren. Mit "Checkpoint Charley" kam ein 700 Seiten dicker Reader als Who-is-who-Liste der Berliner Kunstwelt heraus, und im Stil von Guerilla-Marketing wurde kurzerhand eine Filiale der Gagosian Gallery gegründet, wobei Larry Gagosian immerhin der größte Kunsthandelsmulti der USA ist. An dieser Umtriebigkeit merkte man schnell, dass die Ausstellungsmacher Gioni und Subotnick das Spiel mit Aufmerksamkeitsstrategien beherrschen, Maurizio Cattelan war als ausgebildeter Künstler in begleitenden Interviews für den Quatschfaktor zuständig.

Den Rest erledigten die drei New Yorker Coolhunter nebenher, mit Geduld und Routine. Sie haben Genehmigungen vom Straßenamt eingeholt, um einen Baucontainer aufzustellen, in dem der in Rotterdam lebende Erik van Lieshout sein Video zeigen kann, das als Tagebuch auf einer Radtour nach Rostock entstanden ist - atmosphärisch wackelnde Digicam-Bilder, abendliche Haschgelage und zeternde Ostdeutsche inklusive. Sie haben mit Anwohnern die Nutzung mehrerer Privatwohnungen ausgehandelt, sie haben einen Saal im Ballhaus Mitte gemietet, in dem ein Pärchen sich nach Vorgaben des Konzeptkünstlers Timo Sehgal performativ auf dem Boden wälzt und küsst, sieben Stunden täglich, dann ist Ende der Liebesschicht. Sie haben den "Förderverein Alter Berliner Garnisonsfriedhof e. V." überzeugen können, dass auf der 280 Jahre alten Ruhestätte Susan Philipsz in einer Soundinstallation über den Gräbern depressive Radiohead-Hits singt.

Schon weil von diesem zähen Ringen um Auflagen und Bewilligungen nichts zu merken ist, weil vom Kellergewölbe bis zum vermoderten Pferdestall jeder Videobeamer funktioniert und jede Hängung stimmt, kann man nur sagen: toll gemacht, Danke schön. Aber reicht organisatorische Cleverness für eine Ausstellung, die hauptstädtischer "Leuchtturm" sein will, wie es der Kulturstaatsminister anerkennend in seinem Vorwort zum Katalog nennt? Es gab genügend Geld von der Bundeskulturstiftung und dem Hauptsponsor BMW; es gab mit den Kunst-Werken eine Institution, die unter ihrem früheren Direktor Klaus Biesenbach bereits drei Biennalen mit weniger Budget gestemmt hat; und es gab reichlich Unterstützung durch internationale und hiesige Galerien, dazu Sammler und Museen, die Leihgaben wie Bruce Naumans raffinierte Plexiglas-/Video-Installation "Rats and Bats" (1988) oder Paul Mc Carthys? mechanisch mit den Wänden klappernden "Bang-Bang Room" aus dem Jahr 1992 möglich gemacht haben.

Ein gemeinsamer Nenner, ein Thema oder gar Programm ist jedoch nirgends zu erkennen. "Von Mäusen und Menschen", so der Untertitel nach einer Erzählung von John Steinbeck, ist vor allem Ornament. Ein "Monster mit vielen Gesichtern" (Gioni), das durch die zahllosen Räume und Apartments mäandert. Visuell einprägsam, oft dekorativ und mit einem Hang zu privaten Mythologien im Miniaturformat. Nicht von Ungefähr hat Kai Althoff als ein Meister erratischer Bild- und Objektassemblagen gemeinsam mit Lutz Braun eine Plattenbauwohnung komplett in einen Schauermärchenkosmos umgemodelt, der von lässig platzierten Pornoheften über Basteleien in Ton und balinesische Scherenschnittzitate bis zum kinderladentauglichen Farbgematsche an den Fenstern reicht. Die Welt als Wille und Happening, irgendwo läuft auch noch ein Fernseher, auf dem Althoff bei einem hübsch choreografierten Ausdruckstanz zu sehen ist.

Geschickt überlagern sich bei Althoff/Braun kunsthistorische Verweise, wuchern für erledigt gehaltene Ismen und Attitüden wie Schimmel einer fernen Vergangenheit. Zugleich ist es radikale Verweigerung, die von der Hermetik profitiert: In meinem Chaos bin ich Kapitän. Der Besucher muss derweil Schlange stehen, Zutritt ist nur jeweils drei Personen erlaubt, das fördert die Exklusivität und verstärkt den Erlebnischarakter. Tatsächlich kommt man von süßlichen Vanillenebeln und dem Gestank von vergorenem Schnaps benommen zurück auf die Straße.

Vielleicht ist diese Tauchfahrt in die Eingeweide der Esoterik exemplarisch für die 4. Berlin Biennale. Lange schon war eine Ausstellung nicht mehr dermaßen auf Effekte aus, wurde das Publikum von obsessiven Phantasmagorien so sehr in Beschlag genommen. Nachdem die letzte documenta die Politikfähigkeit zeitgenössischer Kunst beweisen sollte und die von Ute Meta Bauer 2004 geleitete 3. Berlin Biennale als Themenpark zur Stadtsoziologie angelegt war, haben sich Gioni, Subotnick und Cattelan vom Primat der Theorie verabschiedet. "Es ist an der Zeit, den Rückzug anzutreten und sich im Inneren zu verstecken", lautet ihre Devise, wofür der belgische Maler Michael Borremans mit überdimensionalen Häusern und merkwürdig aus dem Maßstab gerutschtem Personal die passende Allegorie liefert. Denn auch das Innen erkennt man nur an der Unruhe, den Spannungen und Verformungen, die sich auf der Oberfläche abzeichnen.

Kunst, die dagegen soziale Handlungsräume aufzeigt oder nach gesellschaftlichen Kontexten fragt, das war gestern. Statt dessen besinnt man sich aufs Kerngeschäft, das Zauberwort heißt: Imagination. Wozu Überbau? Was zählt, ist das Auge und der sinnliche Zuspruch des Betrachters. Entsprechend geschmackvoll wechseln sich Fotos, Zeichnungen, feingliedrige Skulpturen und hin und wieder Videos ab. Überall wird viel in der eigenen Biografie geforstet, werden Kindheitstraumata in pathetischen Bühnensettings abgearbeitet, in krause Erinnerungscollagen transformiert oder als niedliche, gerne auch ein bisschen obszöne Pornoplots und Knetgummianimationen inszeniert. Bei Nathalie Djurberg leckt ein Trickfilmtiger einen Mädchenhintern zur Drehorgelmusik, bei Thomas Zipp wird der Reaktorunfall von Tschernobyl mit düster gemalten Fratzen wiederaufbereitet, die er auf einem zur Wandtapete vergrößerten Originalfoto vom Unglücksort drapiert hat.

Keine Frage, das Timing stimmt. 20 Jahre nach der Katastrophe wirkt Zipps Arrangement wie eine surrealistische Mahnwache. Doch vor einer konsequenten Auseinandersetzung mit den politischen, wenn nicht ökonomischen Zusammenhängen in Sachen Atomkraft schreckt das Ensemble zurück. Nichts soll eindeutig sein, zur Not bleibt das Dargestellte eben exotisch und fremd.

Das gilt überhaupt für viele Arbeiten, die neben Zipps Rauminstallation in der ehemaligen jüdischen Mädchenschule präsentiert werden. Offenbar war ein gewisser historischer Grusel von den Kuratoren durchaus erwünscht: Wo bis zur Schließung 1942 durch die Nazis noch Kinder der jüdischen Gemeinde unterrichtet wurden und in der DDR die Bertolt-Brecht-Schule untergebracht war, hat Robert Kusmirowski den Nachbau eines Viehwaggons auf original polnischen Bahnschienen aufgebockt.

Das Problem liegt nicht im Triumph des perfekt simulierten Schreckens. Der Biennale geht es in einem seltsam naiven Hunger nach Authentizität um das echte, wahre, unhintergehbar gelebte Leben. "Man wird geboren, man lebt, und dann stirbt man", dieser in seiner Schlichtheit verführerische Satz der Kuratoren wird von den Exponaten unendlich oft variiert. Alles fügt sich zur Illustration dieser doch banalen Erkenntnis: Im Erdgeschoss der Kunst-Werke kann man auf Dokumentarfotos von Corey Mc Corkle? zusehen, wie seiner Frau bei der Geburt das Baby brutal aus dem Unterleib gezogen wird, während zwei Stockwerke höher auf Benjamin Cottans winzigen Zeichnungen die Gesichter von verstorbenen Künstlern wie Gespenster aus dem Jenseits erscheinen. Ob rauer Alltag oder zart gewobene Poesie: Ständig schließt sich der Kreis, werden selbst verspielte Low-Budget-Fiktionen mit beinhart existenzialistischer Horrorshow abgeglichen, bis sich die Ausdrucksmittel gegenseitig aufheben.

Manchmal gelingt die Balance, ein Knistern im Zustand der Schwebe. Etwa in dem zweistündigem Video "Deeparture", für das der 1977 in Rumänien geborene Mircea Cantor einen Wolf und ein Reh in einem leeren weißen Raum gefilmt hat. Die Tiere sind extrem nervös: Liegt es an ihrer Witterung? Versagen die Triebe? Oder haben sie womöglich beide Angst vor der Kamera? Der Film verwirrt das Verhältnis von Wölfen und Rehen, indem er es zur Darstellung bringt. Das ist ein Hieb gegen die vermeintliche Naturgegebenheit des Sichtbaren, der auf dieser Biennale mit ihrer kunterbunten Puppenstuben-, Schmodder- und Spukhausromantik und dem vielen Bilderspeck, mit dem man eher Menschen als Mäuse fängt, noch lange nachhallt.


URL: http://www.fr-aktuell.de/ressorts/kultur_und_medien/feuilleton/?cnt=833268

Auguststraßens Aura

Die 4. Berlin-Biennale schlängelt sich von Ort zu Ort durch den Stadtteil Mitte und schreibt dabei einen äußerst charmanten Kunst-Roman

 VON ELKE BUHR

Auf der Straße vor dem abweisenden dunkelroten Klinkergebäude mit der Adresse Auguststraße 11-13 hatte man es schon laut knallen gehört. Hinter der mit Graffiti und Plakaten bedeckten Tür in Berlin-Mitte öffnet sich eine Eingangshalle, bunte Wandmosaike und abblätternde Deckenfarbe fügen sich zu verblichener Eleganz. Der Gang links herum führt in einen großen, quadratischen Raum, in dem man Angst und abgestandenen Schweiß zu wittern meint: Es ist eine alte Turnhalle. Als Ursprung des Lärms offenbart sich darin eine Art Zimmer aus Sperrholz, das, angetrieben durch kleine Motoren, aggressiv seine Wände ausschwenkt, so dass die Türen knallen.

Suggestiver ist der "Bang-Bang Room" von Paul Mc Carthy? (1992) wohl selten platziert worden. Man kann gar nicht anders, als bei den knallenden Türen an die Geister derer zu denken, die einst hier ihre Turnübungen machten: Mädchen mit Bubiköpfen und weißen Kragen über'm Kleid, die in den Dreißiger Jahren in diese jüdische Mädchenschule von Berlin-Mitte gingen, und von denen viele in den Gaskammern der Nazis starben.

Uralter Kreidestaub

Die Schule war 1928 als letzter Neubau der jüdischen Gemeinde Berlins vor der Machtergreifung der Nationalsozialsozialisten gebaut und 1942 von den Nazis geschlossen worden. Zur Zeit der DDR zog die "Polytechnische Oberschule Bertolt Brecht" hier ein, der vor zehn Jahren sinkende Schülerzahlen ein Ende machten. Seitdem stand das denkmalgeschützte Gebäude, das wieder der jüdischen Gemeinde gehört, leer - bis die Kuratoren der 4. Berlin-Biennale Maurizio Cattelan, Massimiliano Gioni und Ali Subotnik es aus seinem Schlaf erweckten. Mitsamt bröckelndem Putz, DDR-Tapete, Graffiti und Jahrzehnte altem Kreidestaub haben die drei es zu einem zentralen Ort für ihre Ausstellung gemacht, und gleichzeitig zu deren großartigstem Exponat; eine Art großes Ready-Made, das mit seiner Aura die in ihm platzierten Objekte selbst dann aufzuladen vermag, wenn sie selbst einmal mit Erzählungen geizen.

Narration ist alles bei dieser Biennale. Den Titel Von Mäusen und Menschen haben das Kuratoren von John Steinbeck entliehen; ihre Ausstellung funktioniert gleichsam als ein Roman, der von nichts weniger erzählen soll als vom Leben und vom Tod. Der Schauplatz der Story sollte explizit Berlin sein; das hatte nicht nur die Bundeskulturstiftung gefordert, die der Berlin-Biennale jetzt endlich finanzielle Planungssicherheit für diese und die nächste Ausgabe ermöglicht hat, darum hatte sich auch das italienisch-amerikanische Macherteam bemüht, das sonst meist von New York aus arbeitet. Mit den staunenden Augen der Touristen haben sie sich 18 Monate lang durch die Berliner Kunstszene gewühlt und dort das gefunden, was seit den neunziger Jahren den Mythos des Nach-Wende-Berlin ausmacht: unzählige kleine Künstlerinitiativen, die sich in den Ritzen dieser Stadt im Umbau einnisten, Räume umnutzen und deren verwickelter Geschichte neue Kapitel hinzufügen.

So haben Cattelan, Gioni und Subotnik sich kurzerhand auch einen Raum gemietet, ihm einen geklauten Namen gegeben - Gagosian Gallery - und dort schon seit dem vergangenen Jahr Ausstellungen veranstaltet. Und ähnlich wie der junge Klaus Biesenbach die erste legendäre Ausstellung der in Gründung befindlichen privaten Initiative Kunst-Werke 1992 in 37 leer stehenden Wohnungen in der Auguststraße veranstaltete, so machten auch sie sich für ihre Schau auf die Suche nach Privatwohnungen und anderen auratischen Orten.

Kunstparcours

An 12 Orten entlang der Auguststraße in Berlin-Mitte präsentiert sich die Berlin-Biennale 2006. Neben dem Ausstellungshaus "Kunst Werke?" bespielt das Kuratorenteam Maurizio Cattelan, Massimiliano Gioni und Ali Subotnik unter anderem eine ehemalige jüdische Mädchenschule, einige Privatwohnungen, einen alten Friedhof und die Pferdeställe des ehemaligen Postfuhramtes. Die 4. Berlin Biennale für Zeitge- nössische Kunst ist bis zum 28. Mai zu sehen. Der Kurzführer kostet in der Ausstellung 10 Euro, der Katalog 30 Euro, beide im Verlag Hatje Cantz. elb Entstanden ist ein ganzer Kunst-Parcours vom einen Ende der Auguststraße zum anderen. Im romantisch bröckelnden "Ballhaus Mitte" trifft man auf ein von Tino Seghal instruiertes Tänzerpaar, das vor den Spiegelwänden des alten Tanzsaales die schönsten Küsse der Kinogeschichte in Zeitlupe nachknutscht. In den schrundigen Ställen des Postfuhramtes, wo früher die Pferde ihr Heu kauten, läuft ein Video von Jeremy Deller über eine russischstämmige Klezmer-Combo aus der Auguststraße, die ein selbst komponiertes "Berlin-Biennial-Theme" zur Aufführung bringt. Damit es nicht allzu herzzerreißend wird, grüßt Michael Beutler im Raum daneben mit einer imposanten Treppenkonstruktion aus baustellengelbem, drahtdurchzogenen Plastik sachlich die Moderne; der dazu passende Baustellencontainter 200 Meter weiter die Straße entlang enthält einen zynischen, witzigen, großartigen Film von Erik van Lieshout, der durch Deutschland radelt und sich zu bräsigen alten Nazis und ostdeutschen Plattenbaubewohnern auf's Sofa setzt. Unheimlich wird es dann wieder in einer ofenbeheizten Vorderhauswohnung, wo sich zwischen den Möbeln des Besitzers plötzlich welche von Damián Ortega finden, die vibrieren und weghüpfen, wenn man ihnen zu nahe kommt. Und in der Kapelle auf dem alten Garnisonsfriedhof am Ende der Straße dräut eine monströse, pferdartige Skulptur von Berlinde De Bruyckere.

Aber nicht nur die Orte, auch die Kunst hat ihre Geschichte, und so haben die Kuratoren in ihren Ausstellungsessay immer wieder auch ältere Werke eingeflochten. In der alten Schule sitzt, sehr passend, die Puppe eines traurigen Schuljungen aus dem Stück Die Tote Klasse des polnischen Universalkünstlers Tadeusz Kantor auf der Bank. In den Kunst-Werken beginnt der Rundgang mit einem fiesen gelben Rattenkäfig samt Videos von experimentell verwirrten Nagetieren von Bruce Nauman, und die zentrale Halle im Erdgeschoss präsentiert den großen, schwarz-weiß gehaltenen Foto-Essay "Ein-Heit", in dem Michael Schmidt vor zehn Jahren die deutsch-deutsche Geschichte elliptisch zu fassen versuchte, in der Mitte dazu drei ausgemergelte, monströse Gestalten von Thomas Schütte, The Capacity Men von 2005.

Lesbare Ausstellung

In den Kunst-Werken, dem einzigen annähernd konventionellen Kunstraum dieser Biennale, drücken die Kuratoren erkennbar ein bisschen auf die Tube, um ihrem Kunstroman die existenzielle Dimension zu geben, mit blutig-schleimigen Geburtsfotos von Corey Mc Corkle?, mit Benjamin Cottams winzigen Porträtzeichnungen von toten Künstlern oder mit Gillian Wearings lakonisch-eindrücklichem Video Drunk, in dem man dem Elend eines Volltrunkenen ins Gesicht blickt. Das alles ist allerdings großzügig, klar und mit Respekt für jedes einzelne Werk inszeniert, so dass auch das Spektakuläre nicht allzu aufdringlich wird.

Es ist eine sehr lesbare Biennale geworden, zugänglich für Mensch und Maus, ohne dabei dumm zu sein. Sie beschwört das Unheimliche vielleicht ein paar Mal zu oft, und ja, sie stiehlt ihren Charme den Ruinen, aber nicht, ohne ihnen dabei etwas zurückzugeben, nämlich Aufmerksamkeit für deren spezifische Geschichte. Die Kurator Innen? mit dem touristischen Blick haben den Mythos von Berlin-Mitte auf ihre ganz eigene Art noch einmal nachgespielt. Sie haben sich ihr Berlin erträumt, die Kunst wie einen Rahmen darüber gelegt und zeigen jetzt beides vor, mit einem Entdeckerstolz, der einfach mitreißt


 DIE WELT.de

Wie lustvoll suhlt es sich im Verhängnis

Scheitern und trotzdem weitermachen: Davon erzählt die vierte Berliner Kunst-Biennale

 von Uta Baier

Viel ist gemutmaßt worden über die vierte Berlin Biennale. Erneute Berlinmythosbearbeitung wurde befürchtet, denn die drei Kuratoren Maurizio Cattelan, Massimiliano Gioni und Ali Subotnick hatten allein die Auguststraße, jene Keimzelle des neuen Galerienviertels in Berlin-Mitte, zur Ausstellungsmeile erkoren. Den noblen Martin-Gropius-Bau lehnten sie als Ausstellungsort ab und zeigten lieber mehrere kleine Ausstellungen in der extra gegründeten "Gagosian Gallery". Doch am Ende zählt nur, was die große, die richtige, die vierte Berlin Biennale ist. Und was ist sie? Die erste war eine fröhliche Inbesitznahme der Auguststraße durch Berliner Künstler, die zweite versuchte die ganze Stadt mit einer internationalen Ausstellung zu überziehen, die dritte verlor sich in angestrengten Diskursanalysen, die irgendwie mit Berlin zu tun hatten. Die vierte nun ist eine Erzählung des Scheiterns, wie ihr Titel "Von Mäusen und Menschen" unmißverständlich klar macht. Denn in John Steinbecks melodramatischer Erzählung aus dem Jahr 1937, die der Ausstellung den Namen gab, geht es um die Unmöglichkeit, dem Verhängnis auszuweichen. Ein ungewöhnliches Ausstellungsthema, doch offenbar das, was die Kuratoren (zwei Italiener, eine Amerikanerin) mit Berlin verbinden, durch dessen Straßen und Künstlerateliers sie seit Monaten gezogen sind. Vom Leben und Sterben, vom Scheitern und hoffnungsvollen Weitermachen, von Lebensgeheimnissen und Lebensstrategien erzählt diese Ausstellung immer wieder. Sie suhlt sich geradezu in individuellen Mythologien, wie den Sprachblättern des autistischen Künstlers Christopher Knowles, sie breitet mit Lust die 387 Miniatur-Papphäuser des Wiener Versicherungsangestellten Peter Fritz aus, sichert den Alkoholiker-Videos von Gilliam Wearing eine ganze Ausstellungsetage, verliert sich lustvoll in blassen Zeichnungen und Fotoessays.

Sie alle sind Variationen eines immer wiederkehrenden Themas, mal spielerisch, wie bei Marcel van Eeden, der das Leben des K.M. Wiegand erfindet und illustriert, mal absurd, wie bei Paul Mc Carthy?, dessen 1992 entstandenes Haus mit den laut schlagenden Türen und aufklappenden Wänden vom sich ständig neu erfindenden, doch niemals sicheren Leben erzählt. Ein Leben, so unheimlich wie es Markus Schinwald und seine Gesichtsklappuppe Otto lieben, oder direkt und brutal-voyeuristisch wie bei Corey Mc Corkle?, der die Geburt seines Kindes fotografiert hat. Das klingt, als hätte es alles und nichts mit Berlin zu tun. Und genau so sind die Ausstellungen entlang der Auguststraße: ortsspezifisch, mit dem besonderen Flair vom verlassenen, unverändert gebliebenen ehemaligen Bertolt-Brecht-Gymnasium, das zuvor jüdische Mädchenschule war, den Besonderheiten der Auguststraßen-Künstlerwohnungen und gleichzeitig ortlos, wie Kunst nun mal ist. Selten wagten Kuratoren für eine solch große Ausstellung so hemmungslos auf Subjektivität zu setzen wie diese drei. "Alles was Sie sehen, ist subjektiv und durch Voreingenommenheit gekennzeichnet. Einfacher formuliert: Dies sind einige Dinge, wie wir zusammen sehen wollten", schreiben sie im Katalog.

Das ist ungewohnt ehrlich im gern wortgewaltigen Kunstbetrieb, der bevorzugt als Welterklärer, Weltbelehrer und Weltverbesserer auftritt - und das ist das Problem der Ausstellung. Zwar schafft sie es perfekt, ein Gefühl der Hilflosigkeit, des Rückzugs, des Ausgeliefertseins, das viele Künstler beschäftigt, weiterzutragen. Doch nicht dadurch, daß sie so furchtbar eindrucksvolle Kunst, sondern indem sie so viele Grafiken, fast unsichtbare Zeichnungen und geheimnisvoll-bedeutsame, unerklärbare Installationen gemeinsam mit rätselhaften Fotos voller undeutbaren Motive zeigt, die ein Gefühl von faszinierter Ratlosigkeit provozieren. "Ihre Isolation spiegelt unser Gefühl diffuser Unsicherheit, aber vielleicht ist es nur ein Zeichen der heutigen allgegenwärtigen Furcht; es ist an der Zeit, den Rückzug anzutreten und sich im Inneren zu verstecken", steht am Ende des Kuratorenkatalogbeitrags. Das hört sich furchtbar an, funktioniert als Ausstellung aber perfekt. Denn die Auguststraße mit ihrer Berlin-Mitte typischen Mischung aus schick Saniertem, trotzig erhaltenem DDR-Plattenbau und Leerstehendem, mehrere historische Schichten Bewahrendem erzeugt fast von selbst das John-Steinbeck-Gefühl in etwas hineinzugeraten, das unausweichlich, vorherbestimmt ist und grandios ins Scheitern führt. Dazu trägt nicht unwesentlich die leere, aber unveränderte ehemalige Schule bei - ein klar geordnetes Labyrinth, in dem das Licht von Martin Creed enervierend-rhythmisch, dem Wahnsinn nahe immer wieder an und aus geht. Dieses Gefühl wird nicht verschwinden, dringt man in die Künstlerwohnungen, Keller, Abstellräume entlang der Straße ein, die zu Ausstellungsräumen erklärt wurden. Doch sie geben dem Memento Mori, das über den großen Ausstellungen in Kunstwerken und Mädchenschule liegt, das Leben zurück. Denn sie erzählen nicht vom Scheitern, sondern vom Weiterleben.

Berlin, bis 28. Mai, Katalog (Hatje Cantz) 30 Euro