Auszug aus Empfehlung zur Entwicklung der Kunstuniversitäten in Österreich Mai 2009 / Österreichischer Wissenschaftsrat


3. Forschung

3.1 Zum Forschungsbegriff in der Kunst

Im Zuge der mit dem Bundesgesetz 1998 erfolgten Umwandlung der Kunsthochschulen in Kunstuniversitäten wurde Forschung zum ersten Mal als eigenständige Aufgabe für diesen neuen Hochschultyp angeführt.[114] Obwohl die Formulierung aus dem Jahre 1983 (in den leitenden Grundsätzen für die Gestaltung der Studien an den Hochschulen) „die Verbindung von Forschung und Lehre“ erwähnte [115], waren die Ziele der Studien wie zuvor auf die „Pflege“ und die „Erschließung der Künste“ fokussiert.[116] Die Formulierung im KUOG (1998), die in das UG 2002 übernommen wurde, schließt die „Entwicklung und Erschließung der Künste“ neben der „Lehre der Kunst“, der „Forschung“, und der „wissenschaftlichen Lehre“ als Kernaufgaben der Kunstuniversitäten ein. Dies wirft angesichts des Umstandes, dass der Forschungsbegriff in der Regel durch einen wissenschaftlichen Kontext und in diesem Sinne als wissenschaftlicher Forschungsbegriff definiert ist, die Frage auf, inwieweit dieser Begriff überhaupt im Kunstbereich Anwendung finden kann, bzw. was unter einem künstlerischen Forschungsbegriff zu verstehen ist. Dazu werden hier in Form einer Erweiterung des Forschungsbegriffs, die die Kunstuniversitäten nicht in eine unzutreffende Systematik zwingt, einige Unterscheidungen vorgeschlagen. In anderen europäischen Ländern haben Bildungsreformen zum Teil dazu geführt, Forschung als Kernaufgabe auch professioneller Kunstschulen anzusehen (Forschung hier im weiteren, auch andere, klassische Herangehensweisen in der Kunst umfassenden Sinne). Diese Entwicklungen lassen sich anhand der Dublin Descriptors, beschlossen auf der europäischen Ministerkonferenz in Bergen 2005, verdeutlichen: „Das Wort ‚Forschung’ wird verwendet, um eine große Bandbreite von Aktivitäten abzudecken, deren Kontext häufig auf ein Studienfach bezogen ist; der Begriff bezeichnet hier eine sorgfältiges Studium, oder eine sorgfältige Untersuchung, die auf einem systematischen Verstehen und einem kritischen Bewusstsein von Wissen beruht. Das Wort wird unter Einbeziehung der Spannbreite von Aktivitäten verwendet, die originelles und innovatives Arbeiten im gesamten Spektrum akademischer, professioneller und technologischer Felder, inklusive der Geisteswissenschaften, traditioneller, performativer und anderer kreativer Künste fördern. Es wird nicht in einem limitierten oder restriktiven Sinn verwendet, oder lediglich bezogen auf eine traditionelle „wissenschaftliche Methode“.[117]

Der Hinweis auf das Spektrum „performativer und anderer kreativer Künste“ spiegelt den Umfang jener Fragen zur Rolle, zur Natur und zu den Grenzen der Forschung wider, die in den letzten Jahrzehnten, bezogen auf die künstlerische Praxis, zunehmenden Einfluss auf die künstlerische höhere Bildung hatten, und dies in besonderem Maße in Finnland, in Großbritannien und in den Niederlanden.

3.1.1 Offener Forschungsbegriff

Unter einem offenen Forschungsbegriff ist ein Begriff zu verstehen, der sich nicht von vornherein an einem wissenschaftlichen Forschungsbegriff, etwa am naturwissenschaftlichen Forschungsbegriff, orientiert und insofern auch in methodologischer Hinsicht weniger festgelegt ist als dieser. Ein offener Forschungsbegriff umfasst alle Formen eines methodisch, also durch die Existenz von bestimmten Verfahren bestimmten Kennenlernens bzw. Herstellens von Gegenständen und deren reflektierten Erkennens. Im Unterschied zum wissenschaftlichen Erkennen, das auf ein begrifflich organisiertes Weltwissen führt, führt das künstlerische Erkennen auf ein sinnlich organisiertes Weltwissen.118 Entsprechend unterscheiden sich auch die jeweiligen Forschungsbegriffe. Als offen wiederum lässt sich ein Forschungsbegriff bezeichnen, der sowohl ein begrifflich organisiertes als auch ein sinnlich organisiertes (reflektiertes) Erkennen zum Gegenstand hat.

3.1.2 Künstlerische Forschungsformen

Forschung in der Kunst lässt sich auf dreierlei Weise näher bestimmen: als Forschung über Kunst, als Forschung durch Kunst und als Forschung in der Kunst (im engeren Sinne). Unter Forschung über Kunst sind die traditionellen Forschungswege und Forschungsweisen der Kunstgeschichte und der Kunstwissenschaft zu verstehen, z.B. die Arbeiten von E. Gombrich und O. E. Deutsch. Hier ist die Kunst bzw. sind einzelne Aspekte der Kunst Gegenstand der Forschung, die sich ihrerseits der herkömmlichen wissenschaftlichen Methodenstandards bedient. Diese Forschungsform entspricht daher auch dem wissenschaftlichen Forschungsbegriff, der damit seine methodische Entsprechung auch in den Kunstuniversitäten (desgleichen in Formen außeruniversitärer Kunstforschung) findet.

Im Unterschied zur Forschung über Kunst ist unter Forschung durch Kunst ein (reflektiertes) Erkennen zu verstehen, das sich in der Herstellung von (Kunst)Gegenständen zum Ausdruck bringt. Die Konstruktivität alles Erkennens manifestiert sich hier sowohl im Erfassen von Kunst als auch in deren Herstellung. Mit dieser wird nicht nur das (sinnlich organisierte) Weltwissen erweitert, sondern die Welt selbst. Es handelt sich um ein durch Verfahren geleitetes und auch insofern forschendes Kennenlernen und Erkennen der Welt durch deren Erschaffung. Forschung in diesem Sinne kann sowohl als ein Instrument als auch als ein Ziel verstanden werden. Moderne Beispiele sind Projekte wie z.B. „Smart Second Skin“119, „Breathing City“ [120] oder der Versuch, mit Hilfe der Musik Prozesse im autistischen Hirn zu erkunden.[121] Forschung durch Kunst ist wiederum auf engste Weise verbunden mit Forschung in der Kunst (im engeren Sinne). Hiermit ist die Art und Weise bezeichnet, wie sich im Prozess der künstlerischen Herstellung ein Kennenlernen (von Gegenständen und Verfahren) vollzieht, das zugleich als ein (reflektiertes) Erkennen verstanden werden kann. Es geht in dieser Forschungsform folglich darum, das künstlerische Tun nicht nur in seinen Produkten (Erweiterung der Welt), sondern auch in seinen Arbeitsformen genauer – im Sinne des beschriebenen offenen Forschungsbegriffs – als forschendes Tun zu begreifen. Es ist ein Tun, das durch sich selbst bzw. durch seine Werke einerseits auf forschende Auseinandersetzungen mit Kunst wirkt und andererseits Forschung auf anderen Feldern anregt. Entscheidend ist dabei stets die Existenz eines Erkenntnisinteresses. Beispiele finden sich in den Werken von P. Badura-Skoda [122] und N. Harnoncourt [123], ferner in den Arbeiten der Gruppe „Music, Mind and Machine“ am MIT Media Laboratory.[124] Forschung durch Kunst und Forschung in der Kunst stellen im Unterschied zu Forschung über Kunst, die dem wissenschaftlichen Forschungsbegriff entspricht, den künstlerischen Forschungsbegriff im engeren Sinne dar. Ihm entspricht im Englischen der Terminus „artistic research“ („künstlerische Forschung“)[125], der allgemein mit dem Begriff der Entwicklung und [126] Erschließung der Künste gleichgesetzt wird.

Wie diese Gleichsetzung andeutet, ist Forschung jedenfalls ein wesentliches Merkmal der mit Entwicklung und Erschließung der Künste beschriebenen Aufgabe der Kunstuniversitäten. Jedoch sollte unter Entwicklung und Erschließung der Künste genauer die Art und Weise verstanden werden, in der sich alle hier unterschiedenen Forschungsformen – Forschung über Kunst, Forschung durch Kunst und Forschung in der Kunst (im engeren Sinne) – mit anderen Arbeits- und Ausbildungsformen verbinden.

Obgleich sich im Bereich der Kunstuniversitäten, bezogen auf eine nähere Bestimmung dessen, was unter Forschung und unter einer Entwicklung und Erschließung der Künste zu verstehen ist, weltweit gegenwärtig ein Konsens abzeichnet, bleibt die Terminologie, mit der unterschiedliche Ansätze beschrieben werden, in Bewegung. In den genannten wie auch in anderen Ländern, in denen ähnliche Entwicklungen stattfinden, werden Termini wie „artistic research“, „praxisbasierte (oder praxisgeleitete) Forschung“ oder – der hier verwendeten Terminologie ähnlich – „Forschung in oder durch Praxis“ verwendet, um zu beschreiben, einerseits in welcher Weise die (künstlerische) Praxis einen integralen Teil der Forschung und ihrer Resultate bildet, andererseits in welcher Weise Methoden, die in ihrem Kern künstlerische sind, den Forschungsprozess fördern können. Dies hat zu lebhaften methodologischen und erkenntnistheoretischen Debatten und dort, wo eine derartige Erweiterung ins Auge gefasst wurde, zu bedeutenden Arbeiten geführt. Die Forschungsorientierung ist in diesem Falle, auch ohne Zugrundelegung unterschiedlicher Forschungsbegriffe in der Kunst, klar: diese Arbeiten suchen das Wissen und das Verstehen im künstlerischen Bereich wie auch allgemein zu erweitern, neue künstlerische Möglichkeiten zu eröffnen und neue Potentiale künstlerischer Produktion bereitzustellen. Die Methoden bleiben dabei wesentlich künstlerische.[127] Es ist die ständige Infragestellung des künstlerischen Prozesses selbst, durch die neue Kunstformen zustandekommen – neue Konzeptionen, Installationen, Interpretationen – und Einsichten in die Natur und in die Qualität der Forschung gesteigert werden. Dabei lässt sich unterscheiden zwischen künstlerischer Praxis als Forschung und, im Gegensatz dazu, als Produktion von Kunst um ihrer selbst willen, ohne irgendwelche Forschungsabsichten. Im österreichischen Kontext macht das UG 2002, insofern es zwischen Entwicklung und Erschließung der Künste und Forschung ohne weitere Erläuterungen unterscheidet, nähere Bestimmungen erforderlich, bietet darin aber auch die Möglichkeit, diese Terminologie mit Entwicklungen andernorts zu verbinden.


Fussnoten: -----------

114 „Die Universitäten der Künste sind berufen, der Entwicklung und der Erschließung der Künste, der Lehre der Kunst, der Forschung und der wissenschaftlichen Lehre zu dienen“ (Bundesgesetz: Organisation der Universitäten der Künste (KUOG), BG Bl?. 130/1998, § 1).

115 „(...) die Verbindung der Pflege und Erschließung der Künste mit der Lehre sowie die Verbindung von Forschung und Lehre“ (Bundesgesetz: Kunsthochschul-Studiengesetz (KH St G?), BG Bl?. 187/1983, § 2).

116 „Die Studien an den Hochschulen haben folgenden Zielen zu dienen: 1. der Pflege und der Erschließung der Künste“, ebd., § 3 (vgl. Bundesgesetz: Kunsthochschul-Organisationsgesetz, BG Bl?. 54/1970).

117 Übersetzung: H. Schäfer, in: Gemeinsame „Dublin Descriptors“ für Bachelor-, Master- und Promotionsabschlüsse. Bericht einer informellen Gruppe der Joint Quality Initiative, Dublin 2004, 4; http://www.jointquality.nl/content/descriptors/DublinDeutsch.pdf

118 Vgl. K. Lorenz, Forschung, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie II, Stuttgart/Weimar 22005, 533-534.

119 http://www.ahrc.ac.uk/FundedResearch/CaseStudies/Pages/secondskin.aspx; http://www.smartsecondskin.com/main/home.htm

120 http://artsresearch.brighton.ac.uk/research/projects/spring-group/breathing-city

121 http://www.sciencedaily.com/releases/2008/05/080513101717.htm

122 E. und P. Badura-Skoda, Mozart-Interpretation, Wien/Stuttgart 1957.

123 http://www.highfidelityreview.com/reviews/review.asp?reviewnumber=18419073

124 http://sound.media.mit.edu/, ferner C. Rust/J. Mottram/J. Till, Review Report, AHRC Research Review, Practice-Led Research in the Art, Design and Architecture, 2007, 103- 170, Appendix F; http://www.ahrc.ac.uk/About/Policy/Documents/Practice-led_Review_ Nov07.pdf

125 Der hier getroffenen Unterscheidung zwischen drei Forschungsbegriffen bzw. Forschungsaspekten in der Kunst entsprechen ähnliche Unterscheidungen in der angelsächsischen Diskussion, so die Unterscheidung zwischen „research into the arts“, „research for the arts“ und „research through the arts“ (C. Frayling, Research in Art and Design, Royal College of Art Research Papers 1 (1993/94), Nr. 1, 1-5, ferner zwischen „research on the arts“, „research for the arts“ und „research in the arts“ (H. Borgdorff, The Debate on Research in the Arts, Dutch Journal of Music Theory 12 (2007), 1–17, und http://www.ahk.nl/fileadmin/ download/ahk/Lectoraten/Borgdorff_publicaties/The_debate_on_research_in_the_arts.pdf).

126 Vgl. FWF Förderprogramm, Entwicklung und Erschließung der Künste, Summary; http://www.fwf.ac.at/de/aktuelles_detail.asp?N_ID=334

127 Vgl. die Definition in: C. Rust/J. Mottram/J. Till, Review Report, AHRC Research Review, Practice-Led Research in Art, Design and Architecture, 11 („Research in which the professional and/or creative practices of art, design or architecture play an instrumental part in an inquiry“); http://www.ahrc.ac.uk/About/Policy/Documents/Practice-Led_Review_ Nov07.pdf