Warum wir uns bemalen. Manifest der Futuristen

Der rasenden Stadt der Lichtbogenlampen, den mit Körpern bespritzen Straßen, den sich aneinanderdrängenden Häusern haben wir das bemalte Gesicht gebracht: der Startschuß ist gefallen, und die Bahn erwartet die Läufer. Als Schöpfer sind wir nicht angetreten, das Aufbauen zu zerstören, sondern es zu rühmen und zu bestätigen. Unsere Bemalung ist weder eine unsinnige Erfindung, noch ein Rückfall; sie ist untrennbar verbunden mit der Wesensart unseres Handwerks.

Die glühende Hymne auf den Menschen ruft wie ein Hornist vor der Schlacht zu Siegen über die Erde auf, die sich scheinheilig unter den Rändern verborgen hat bis zur Stunde der Vergeltung; die schlafenden Waffen sind erwacht und spucken auf den Feind.

Das neue Leben verlangt nach einer neuen Gesellschaft und einer neuen Art der Verkündung.

Unsere Bemalung ist die erste Sprache, die unbekannte Wahrheiten entdeckt hat. Und die Feuersbrünste, die sie ausgelöst hat, geben Zeugnis davon, daß die Knechte der Erde nicht die Hoffnung aufgeben, die alten Nester zu retten; sie haben alle ihre Kräfte gesammelt zur Verteidigung der Tore, haben sich zusammengerottet, weil sie wissen, daß mit dem ersten erzielten Treffer wir die Sieger sind.

Die Entwicklung der Kunst und die Liebe zum Leben haben uns geleitet. Die Treue zu unserem Handwerk hat uns, die Kämpfer, inspiriert. Die Standfestigkeit der wenigen stellt eine Kraft dar, an der niemand vorbeikommt.

Wir haben die Kunst mit dem Leben vereint. Nach der langen Isoliertheit der Künstler haben wir laut nach dem Leben gerufen, und das Leben ist in die Kunst eingedrungen; nun ist es Zeit, daß die Kunst ins Leben eindringt. Die Bemalung unserer Gesichter ist der Beginn dieses Eindringens. Das ist der Grund für unser Herzklopfen.

Wir streben nicht nach einer einzigen Form der Ästhetik. Die Kunst ist nicht nur ein Monarch, sondern auch Berichterstatter und Dekorateur. Wir schätzen den Druck wie die Nachricht. Die Verbindung von Dekoration und Illustration ist die Grundlage unserer Bemalung. Wir schmücken das Leben aus und predigen - deshalb bemalen wir uns.

Die Selbstbemalung ist eine der neuen Kostbarkeiten, die wie alle heutzutage dem Volk gehört. Die alten paßten nicht mehr und waren durch das Geld schal geworden. Gold wurde als Schmuck geschätzt und teuer. Wir stoßen Gold und Edelsteine von ihrem Sockel und erklären sie für wertlos. Hütet euch, die ihr sie sammelt und bewahrt - bald werdet ihr Bettler sein. Es begann im Jahre '05. Michail Larionov bemalte ein vor dem Hintergrund eines Teppichs stehendes Modell und führte das Muster auf ihm fort. Aber es wurde noch nicht in die Öffentlichkeit getragen. Jetzt machen das auch die Pariser, indem sie die Beine von Tänzerinnen bemalen, die Damen schminken sich mit braunem Puder und verlängern sich ihre Augen wie die Ägypter. Doch das ist überholt. Wir dagegen verbinden die Betrachtung mit dem Handeln und werfen uns in die Menge.

Der rasenden Stadt der Lichtbogenlampen, den mit Körpern bespritzten Straßen, den sich aneinanderdrängenden Häusern haben wir nie Dagewesenes gebracht: Im Gewächshaus sind unerwartete Blumen aufgeblüht, und sie versetzen uns in Erregung.

Die Städter lackieren sich schon lange die Nägel rosa, schminken sich die Augenlider, färben sich Lippen, Wangen und Haare, aber sie alle ahmen nur die Erde nach.

Wir aber haben als Schöpfer mit der Erde nichts zu tun; unsere Linien und Farben sind mit uns entstanden. Wenn uns das Gefieder von Papageien gegeben wäre, würden wir, Pinsel und Stift zuliebe, die Federn ausreißen.

Wenn uns unsterbliche Schönheit gegeben wäre, würden wir sie besudeln und zunichte machen, wir, die wir keine Grenzen kennen.

Tätowierung interessiert uns nicht. Man tätowiert einmal und für immer. Wir aber bemalen uns für eine Stunde, und eine Veränderung der seelischen Verfassung ruft nach Veränderung der Bemalung, so wie ein Bild das andere verschlingt, wenn hinter einer Autoscheibe die Schaufenster ineinanderfließend vorbeihuschen, so ist unser Gesicht. Tätowierung ist schön, aber sie sagt wenig aus, nur etwas über Herkunft und Heldentaten. Unsere Bemalung dagegen ist der Berichterstatter.

Die Gesichtsausdrücke interessieren uns nicht. Das liegt daran, daß man es gewohnt ist, sie zu verstehen, allzu ängstlich und unschön, wie sie sind. Wie das Aufkreischen der Straßenbahn, das die hastenden Passanten warnt, wie die trunkenen Laute eines großen Banjos - so ist unser Gesicht. Mimik ist ausdrucksstark, aber farblos. Unsere Bemalung dagegen ist der Dekorateur. Rebellion gegen die Erde und Verwandlung der Gesichter in Projektoren der seelischen Verfassung.

Das Teleskop entdeckte im Kosmos verlorengegangene Sternbilder, die Bemalung wird von verlorengegangenen Ideen erzählen.

Wir bemalen uns, weil ein reines Gesicht abstoßend ist, weil wir vom Unbekannten kündigen wollen, wir ordnen das Leben neu und bringen die vielfältige Seele des Menschen an die Oberfläche des Daseins.

Michail Larionov, Il'ja Zdanevic

david burliuk 1914

http://archive.garageccc.com/eng/exhibitions/18573.phtml

http://roskofrenija.blogspot.de/2013/03/baku-symphony-of-sirens-sound.html