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aus: Handbuch der deutschen Reformbewegungen isbn 3-87294-787-7


Gemeinschaft und Gesellschaft

von Ferdinand Tönnies bis Theodor Geiger

ein Exkurs von Ulrich Linse


Die oben beschriebenen gesellschaftlich-kulturellen Vorgänge wurden durch eine soziologisch-wissenschaftliche Deutung begleitet, welche den sich vollziehenden Prozeß der Modernisierung1] unter der Perspektive eines universalen und irreversiblen Übergangs von zwei einander total entgegengesetzten Typen des Zusammenlebens betrachtete: als Entwicklung von der Gemeinschaft zur Gesellschaft (Ferdinand Tönnies), von der organischen zur mechanischen Solidarität (Emil Durkheim), als Schwächung traditioneller Zusammengehörigkeit zugunsten einer subjektiveren Individualität und gleichzeitig einer abstrakter gewordenen Gesellschaft (Georg Simmel und Max Weber) -ein dichotomisches Gesellschafts- und Geschichtsbild, das bis in Jürgen Habermas' Gegensatz von kleinformatigen Verbänden der Lebenswelt und dem bürokratischen System weiterwirkte. Noch das aktuelle soziologische Projekt der reflexiven Modernisierung greift bei seiner Beschreibung der einfachen Moderne auf die antithetischen Grundbausteine des Modernisierungs-Denkens der frühen deutschen Soziologie zurück:

Während traditionelle Gesellschaften gemeinschaftliche Strukturen erfordern (... ), gehen einfache moderne Gesellschaften von kollektiven Strukturen aus. Diese kollektiven Strukturen beruhen auf der Voraussetzung, daß gemeinschaftliche Bindungen verschwunden sind und das 'Wir' sich aus abstrakten, atomisierten Individuen zusammensetzt (... ). Gehen Gemeinschaften von gemeinsamen Bedeutungen aus, so Kollektive nur noch von gemeinsamen Interessen (... ). Tatsächlich ist die Gesellschaft in der Moderne abstrakt und nicht definiert durch die konkreten, besonderen Beziehungen der Gemeinschaft, sondern durch Beziehungen wie Unpersönlichkeit, Leistung und Universalismus (... ). 2]

Freilich lag dieser Doppelung nur bei Ferdinand Tönnies (1855-1936) eine sozialromantisch-historistische, also pseudohistorische Verklärung der Vergangenheit zugrunde.

Als Tönnies im Jahre 1887 die erste Auflage seiner soziologischen Studie über Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Sozialismus als empirischer Culturformen veröffentlichte3], wollte er vorgeblich unparteiisch Grundbegriffe der reinen Soziologie (so der Untertitel ab der zweiten Auflage) konstruieren -aber bereits in der Einleitung glaubte er den pathologischen Gang der modernen Gesellschaft betonen zu müssen. 4] Waren in der bisherigen Sozialphilosophie seit der Antike die beiden Begriffe weitgehend synonym gebraucht worden,5] so konstruierte er bei seiner geschichtsphilosophischen Beschreibung der beiden Sozialformen einen säkularen Verfalls-Vorgang von der traditionellen Gemeinschaft zur aktuellen Gesellschaft, von dem lebendigen Organismus des in Familie, Hauswirtschaft, Dorf und Religion verwurzelten Volkes zum mechanischen Aggregat und Artefakt der in Großstadt, Nationalstaat, Industrialisierung, kosmopolitischer Öffentlichkeit und Wissenschaft agierenden Gesellschaft:6]

Gemeinschaft ist für Tönnies eine Sozialform, in der die Menschen miteinander verbunden sind auf der Grundlage eigener persönlicher und um ihrer selbst willen bejahter Beziehungen. Gemeinschaft beruht auf (... ) dem Verzicht auf bestimmte Formen der Selbstbehauptung und einzelhafter Ich-Interessen, auf Selbsthingabe, Liebe, Direktheit, Unvermitteltheit, auf der Unmittelbarbeit des mitmenschlichen Umgangs, auf der Ausschaltung aller distanzierenden menschlichen und technischen Zwischeninstanzen, kurz: auf Wärme, Nähe, Intimität und Rückhaltlosigkeit. Demgegenüber ändert Tönnies nicht nur den Tonfall, wenn er die Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens nennt, er bestimmt diese zudem allein dadurch, daß er (... ) ihre Defizite angibt: Gesellschaftlich miteinander verbundene Menschen, sagt er, sind gar nicht wirklich miteinander verbunden. Gesellschaft sei vielmehr ein bloßes Nebeneinander wesentlich getrennter einzelner Individuen. Gesellschaft sei kein echtes, sondern nur ein scheinbares, ein künstliches Zusammenleben (... ). Deshalb sei Gesellschaft gekennzeichnet durch potentielle Feindseligkeit und latenten Kriegs ihr fehle die 'Wärme', sie mache sogar die Frauen, die von ihrem Wesen her gemeinschaftlich eingestellt seien, 'herzenskalt'. Gesellschaft beruhe auf 'Egoismus', auf 'Begierde und Furcht', auf 'vernunftmäßiger Berechnung von Nutzen und Annehmlichkeit (... ). Tönnies läßt keine Zweifel daran, daß er 'Gemeinschaft' nicht nur für die ursprünglichere, sondern auch für die höherwertige Sozialform hält und daß 'Gesellschaft' nur eine Verfallsform naturwüchsiger Gemeinschaftlichkeit darstellt (... ). Durch das gesamte Werk des Ferdinand Tönnies zieht sich eine 'kulturkritische', wenn nicht sogar eine 'kul-turpessimistische' Spur, die Gesellschaft nur in den 'negativen' Kategorien von Zergliederung, Entmenschlichung, Verfremdung, Verdingli-chung und Künstlichkeit zu sehen erlaubt (... ) und in dem pathetischen Satz gipfelt: 'So ist Großstadt und gesellschaftlicher Zustand überhaupt das Verderben und der Tod des Volkes. 7]

Tönnies freilich glaubte, daß dieser unumkehrbare Niedergang von einem durch Eintracht, Sitte, Religion geprägten Zeitalter der Gemeinschaft zu einem von Konvention, Politik, öffentlicher Meinung bestimmten Zeitalter der Gesellschaft8] ausgehalten und nicht eskapistisch durch rückwärtsgewandte Rekonstruktionen der Gemeinschaft aufgelöst werden könne - so stellte er sich dezidiert auf die Seite der Weimarer Demokratie und gegen den Nationalsozialismus. Aber die Wirkungsgeschichte seines Buches in der Weimarer Zeit wies genau in die entgegengesetzte Richtung:

Mit der Einführung des Wortes 'Gemeinschaft' (... ) kommt die soziologische Theorie ungewollt der reaktionären Opposition gegen die moderne industrielle Gesellschaft entgegen. Während sich die anderen europäischen Sprachen die Synonymität von 'Gesellschaft' und 'Gemeinschaft' bis heute bewahrt haben, wird 'Gemeinschaft' in Deutschland zum ideologischen Leitbegriff jener national-konservativen und völkischen Bewegung, die nach dem Ersten Weltkrieg Sozialismus, Kapitalismus und Industrialisierung zugleich zu 'überwinden' trachtete. 9]

So vermochten sich in der Weimarer Zeit die Anhänger eines Dritten Weges ebensogut wie die der Volksgemeinschaft10] auf Tönnies' gesellschaftskritischen Begriffsgegensatz zu berufen.

Für Tönnies' Vision einer neuen Gemeinschaft mit einer neuen Religion, also einer durch Erneuerung und Religiosität gekennzeichneten Gemeinschaftsform, kam dann 1922 eine weitere soziologische Kategorie auf in Herman Schmalenbachs (1885-1950) Bund, dem vor allem Jugend- und Männerbünde, religiöse Sekten und Ritterorden als empirische Vorlage dienten.11] Im Bundes-Begriff bündelte sich auf der einen Seite die gemeinschaftsbestimmte Handlungskategorie der Vergangenheit; zum anderen aber wurde nun der Bund zu einem voluntaristischen Aktionsbegriff: Der Bündische und Das Bündische wurden substantiviert. Das bündische Lebensgefühl, anfangs gegen den Wilhelminismus gerichtet, ging in die konservative Revolution ein. Erst durch seine Bundigung werde das Reich seine Weltaufgabe erfüllen können, wie es 1933 hieß. Aber mit der Auflösung der bündischen Jugend wurde auch der Bundesbegriff aus dem nationalsozialistischen Vokabular verdrängt (... ). 12]

Es gab aber in der Weimarer Republik noch eine weitere Rezeption von Tönnies: Unter direkter Bezugnahme auf dessen Werk Gesellschaft und Gemeinschaft veröffentlichte Martin Buber (1878-1965) im Jahre 1919 den Beitrag Gemeinschaft in der von ihm herausgegebenen Schriftenreihe Worte an die Zeit:

Eine große Begierde nach Gemeinschaft geht durch alle Seelen seelen-hafter Menschen in diesem Lebensaugenblick der abendländischen Kultur (... ) das erfahrend, was der religiöse Mensch Gottesferne, Gottmangel nennt: begehren sie Gemeinschaft, werben, dienen um sie.

Buber, der schon um die Jahrhundertwende, zusammen mit seinem späteren Freund Gustav Landauer (1870-1919), der lebensreformerischen Neuen Gemeinschaft (Berlin/Schlachtensee) angehört hatte, stellte seinem Aufsatz neben einem Tönnies-Zitat einen Auszug aus Landauers Aufruf zum Sozialismus und einen Tagebuchauszug von Leo N. Tolstoi (1828-1910) voran: Es gibt nur ein Mittel: die religiöse Umwandlung der menschlichen Seele. 13] Buber meinte also nicht die reaktionäre Volksgemeinschaft, sondern zielte mit seiner Übernahme von Tönnies' Gemeinschaft und der Kategorie des Bundes (in Landauers, nicht in Schmalenbachs Auslegung!) auf einen Sozialismus aus dem Glauben, wie es dann 1928 hieß.14] Diese spirituelle Gemeinschaftsvision schlug insbesondere im Religiösen Sozialismus der Zwischenkriegszeit und seinen jugendbewegt-kommunitären Experimenten Wurzel, wirkte aber bis in die israelischen Kibbuzim hinein.

Es gab in der deutschen Soziologie aber auch Widerstand gegen die Zerstörung der offenen Gesellschaft durch exklusive, quasi sakrale Gemeinschafts- und Bundes-Schlüsse. Max Weber (1864-1920) warnte in seiner Rede Wissenschaft als Beruf (1917/19) die studentischen Zuhörer vor einer religiösen Überhöhung ihres jugendbewegten Gemeinschaftslebens. Am bekanntesten wurde Helmut Plessners (1892-1985) bereits 1924 vorgetragene, die soziologischen Kategorien von Gemeinschaft und Bund allerdings vermengende Kritik des soziologischen Radikalismus: Der gesellschaftsfeindlich-reduktionisti-sche Gemeinschaftsradikalismus vor allem der Jugendbewegung (Los von der Zivilisation, empor zur Gemeinschaft!) kultiviere Persönlichkeit im Sinne von Intimität, Rückhaltlosigkeit, individueller Konkretheit und verabscheue soziale Distanz, Verhaltenheit und Abstraktheit. Diese Haltung bedrohe die beiden Pole der entwickelten bürgerlichen Lebensform; denn: Ohne Öffentlichkeitshintergrund, gegen den sie sich absetzt, gibt es keine abgeschlossene Gemeinschaft, ohne Kultur der Unpersönlichkeit keine Persönlichkeit. Wenn trotzdem das Bürgertum die Ideologie der Staats- und industriefeindlichen Gemeinschaft übernehme, arbeite es mit einer solchen Absage an die gesellschaftliche Kultur an seiner Selbstvernichtung.15] Und 1931 wies Theodor Geiger (1891-1952) in seinem Artikel Gemeinschaft im Handwörterbuch der Soziologie darauf hin, daß sich die romantisch irrationale Bewegung des deutschen Bürgertums der Unterscheidung des durchaus unromantischen Tönnies bemächtigt und 'Zurück zur Gemeinschaft!' zum Programm erhoben habe. Insbesondere in der bürgerlichen Jugendbewegung, in der stark von ihr beeinflußten neuromantischen Pädagogik und in der völkischen Bewegung sei die Gemeinschaft zur Parole einer kulturell-gesellschaftlichen Wiedergeburt im Kampf gegen die bürgerliche Zivilisation des 19. Jahrhunderts und damit zu einem recht eigentlich deutschen Problem geworden:

Gemeinschaft wurde Kampfruf jener Elemente des Bürgertums, die der sozialen Revolution mißtrauten, aber der angeblich starren Formen überdrüssig waren und von der jungen Generation eine Kulturwende erwarteten. 16]

So setzte die Lebenspraxis der deutschen Reformbewegungen nicht nur eine soziologische Begriffsbildung frei bzw. erfüllte deren abstrakte Kategorien mit einem Hauch von Leben, sondern bot auch dem politisch-ideologischen Diskurs insbesondere der Weimarer Zeit in vielerlei Hinsicht gedankliche Vorgaben und reale Anhängerschaften.


Footnotes:

  • 1 Zum folgenden siehe Hans von der Loo; Wilhelm van Reijen: Modernisierung. Projekt und Paradox. München 1997, S. 15.
  • 2 Scott Lash: Reflexivität und ihre Doppelungen: Struktur, Ästhetik und Gerneinschaft. In: Ulrich Beck; Scott Lash: Reflexive Modernisierung. Frankfurt/M. 1996, S. 201f.
  • 3 Aus der breiten Literatur zu Tönnies seien nur drei jüngere Publikationen erwähnt: Lars Clausen; Garsten Schlüter (Hg. ): Hundert Jahre „Gemeinschaft und Gesellschaft''. Ferdinand Tönnies in der internationalen Diskussion. Oplanden 1991; Peter-Ulrich Merz-Benz: Tiefsinn und Scharfsinn. Ferdinand Tönnies' begriffliche Konstitution der Sozialwelt. Frankfurt/M. 1995; Günter Rudolf: Die philosophischsoziologischen Grundpositionen von Ferdinand Tönnies. Ein Beitrag zur Geschichte und Kritik der bürgerlichen Ideologie. Hamburg-Harvestehude 1995.
  • 4 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Darmstadt 1888, S. XXIII.
  • 5 Manfred Riedel: Gesellschaft, Gemeinschaft. In: Otto Brunner; Werner Conze; Reinhart Koselleck (Hg. ): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 354ff.
  • 6 Tönnies, S. 4; S. 216.
  • 7 Winfried Gebhard: Erneuerte Religion aus erneuerter Gemeinschaft. Ferdinand Tönnies als Religionssoziologe. In: Volkhard Krech; Hartmann Tyrell (Hg. ): Religionssoziologie um 1900. Würzburg 1995, S. 296ff; das abschließende Zitat findet sich bei Tönnies, S. 215.
  • 8 Tönnies, S. 215.
  • 9 Riedel, S. 859.
  • 10 Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. München 1978, S. 25ff.
  • 11 Herman Schmalenbach: Die soziologische Kategorie des Bundes. In: Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaften. München 1922, S. 35-105. Die Anwendung dieser Kategorie auf die Jugendbewegung erfolgte dann vor allem bei Karl Seidelmann: Bund und Gruppe als Lebensformen deutscher Jugend. München 1955; der Titel der Neubearbeitung lautet: Gruppe -soziale Grundform der Jugend. Hannover 1970.
  • 12 Koselleck, Reinhart: Bund, Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. l. Stuttgart 1971, hier S. 582f.
  • 13 Dieser und spätere ähnliche Texte sind abgedruckt bei Martin Buber: Pfade in Utopia - Über Gemeinschaft und deren Verwirklichung. Heidelberg'l985 (=Darm-stadt 1986), S. 262ff.
  • 14 Vgl. die Dokumentation über die Heppenheimer Konferenz von 1928, ebd., S. 383ff. Zum Kontext dieser Landauer-Rezeption vgl. Arnold Pfeiffer (Hg. ): Religiöse Sozialisten. Ölten 1976.
  • 15 Helmut Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. Bonn 1924; wiederabgedruckt in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 5. Frankfurt/M., S. 7-133.
  • 16 Alfred Vierkandt (Hg. ): Handwörterbuch der Soziologie. Stuttgart 1931. S. 175; vgl. Theodor Geiger: Die Gesellschaft zwischen Pathos und Nüchternheit. Kopenhagen 1960.
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